Mehrstufenraketen

(Oliver Missbach) - SCHON SEHR FRÜH HAT MAN IN DER RAUMFAHRT ERKANNT, DASS MAN DEN WELTRAUM NICHT MIT EINSTUFIGEN RAKETEN ERREICHEN KANN. JEDE DER HEUTE GESTARTETEN WELTRAUMRAKETEN IST MIT MEHREREN STUFEN AUSGESTATTET. AUCH BEI DEN MODELLRAKETEN FINDET DIESE TECHNIK ANWENDUNG.

Wir alle kennen es: Man will ein schweres Modell, evtl. eines mit einer Nutzlast, in die Luft befördern. Also muß ein stärkerer Treibsatz her. Der aber bringt wiederum mehr Gewicht durch seine stärkere Hülle, und die Konstruktion der Rakete muß stabiler, also schwerer, sein. Irgendwann stößt man hier auf ein Limit. Mehrstufige Modellraketen arbeiten sehr "effektiv": Sie stoßen überflüssiges Gewicht in Form des ausgebrannten Treibsatzes ab und verringern damit das Fluggewicht. Das ist nicht nur für sportliche Zwecke oder Lastbeförderung interessant, es ist auch insgesamt eine Herausforderung für den fortgeschrittenen Modellbauer, denn die Technik ist kompliziert und erfordert viele Experimente.

Das Prinzip ist einfach: Der erste Motor zündet den zweiten, und der den nächsten. Der ausgebrannte Motor samt seiner Halterung und dem Körperrohr mit Leitwerk wird abgestoßen. Die Zündung des ersten Motors, auch Booster genannt, erfolgt auf konventionelle Weise. Es handelt sich dabei um einen Spezialmotor, einem sog. Booster-Motor. der nur die normale Treibladung. aber keine Verzögerungs- oder Ausstoßladung besitzt. Nach Brennschluß werden brennende Partikel des Motors nach vorne zur Düse des nächsten Motors geschleudert. die diesen dann automatisch entzünden. Das muß unmittelbar nach Abbrand des ersten Motors erfolgen, und eine Verzögerungsladung würde dazu führen, daß das Modell aus der Bahn kommt und dann erst gezündet wird. Eine Ausstoßladung gar würde mit Sicherheit die Zündung des zweiten Motors verhindern. Deshalb sind nur Booster-Motoren zu verwenden. Sie sind durch eine "0" Verzögerungszeit auf dem Label gekennzeichnet (etwa C6-0 oder D12-0). Auch der Held-1000 ist strenggenommen ein Booster- Motor.

Das größte Problem bei Mehrstufenraketen ist die sichere Zündung des nachfolgenden Motors. Zündet dieser nicht, stürzt das Modell ohne Aktivierung des Bergungssystems in die Tiefe, was nicht unerhebliche Folgen haben kann. Untersuchungen haben herausgefunden, daß -wie bereits an- gedeutet- der nachfolgende Motor nicht durch die heißen Gase, die nach Brennschluß am oberen Ende des Motors herausströmen, entzündet wird. sondern durch brennende kleine Partikel. Diese kleinen Partikel sind aber nicht so schnell wie die heißen Gase, und die Gefahr ist, daß sie durch Aufbau eines Überdrucks die gesamte Stufe "absprengen", bevor noch die brennenden Partikel die Düse des nächsten Notors erreicht haben und diesen entzünden können. Die Gefahr wird umso größer, je weiter der nachfolgende Motor vom Booster weg liegt.

Bei den (Estes) Bausätzen verwendet man daher eine recht sichere Methode, nämlich den direkten Zusammenschluß der beiden Motoren. Sie werden durch ein Klebeband (Tesafilmrolle) miteinander verklebt, und zwar weder zu schwach noch zu fest. Wenn man die beiden Treibsätze wieder auseinanderzieht, muß es deutlich hörbar "Flopp" machen (Flopp-Test). Das Zusammenkleben garantiert, daß die Seperatjon der Stufen erst dann erfolgt, wenn der zweite Motor gezündet hat. denn nur seine zusätzliche Schubkraft ist in der Regel stark genug, die Tesafilmverbindung wieder zu lösen.

Der direkte Zusammenschluß zweier Motoren hat natürlich auch einen Haken: Die Konstruktionsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. So ist es oft wünschenswert, die beiden Motoren räumlich voneinander zu trennen. Um dabei zu verhindern, daß -wie bereits angesprochen- die heißen Gase die Stufen ohne Zündung des nächsten Motors trennen, ist man in den USA dazu übergegangen, Ventilöffnungen einzubauen. Es sind etwa 5 mm dicke Löcher, die unterhalb des nächsten Motors angebracht sind. Sie lassen die heiße Luft entweichen und garantieren einen Abstoß erst dann, wenn die Schubkraft des nächsten Motors nach dessen Zündung dazukommt. Die zwei Löcher sind genau gegenüberliegend gelegen, damit das Modell nicht durch unsymetrisch austretende Ausstoßgase aus der Flugbahn gebracht wird. 

Versuche haben ergeben, daß diese Ventilöffnungs-Methode bis zu einer Trennung von 30 cm zwischen den beiden Motoren funktioniert. In seltenen Fällen, wie etwa bei Scalemodellen, ist es nicht mehr möglich, daß sich der nächste Motor durch den Booster zünden läßt. Hier müssen neue Methoden heran. In Frage kommt da z.B. die Quecksilberschalter-Methode. Die erste Stufe wird normal elektrisch gezündet, die zweite Stufe von einem Zünder, der mit einem Kondensator verbunden ist. Der wiederum ist an einen Quecksilberschalter angeschlossen, den es im Elektrohandel zu kaufen gibt. Der Schalter sieht wie eine kleine Blitzlampe aus und ist mit stromleitenden Quecksilber gefüllt. In das Gläschen münden zwei Drähte, die dann Kontakt geben, wenn das Quecksilber sie umgibt. Beim Start und im Flug ist das Quecksilber unten, die Drähte oben. Bei Brennschluß, wenn die Rakete bremst, geht das Quecksilber nach oben und zündet damit die zweite Stufe. Auch elektronische Schaltungen sind denkbar.

Zur Konstruktion von Mehrstufenraketen: Sie unterliegen denselben Prinzipien wie einstufige Modelle. Die Druckpunkt/Schwerpunkt-Kalkulation erfolgt ebenso. Die untere Flossensektion sollte möglichst größer sein als die folgende. Das Körperrohr der Boosterstufe ist mit einem hohlen Stufenkoppler (also ein Rohr. was einen Außendurchmesser hat, das dem Innendurchmesser des Körperrohres der Rakete entspricht) mit dem Rohr der nächsten Stufe oder des Hauptmodells verbunden. Die Stufe sollte stramm sitzen, aber sie muß auch leicht wieder abgehen. Bei Verwendung von Ventilöffnungen gibt es zwei Methoden: Entweder sind die Löcher die ganze Zeit geöffnet oder erst dann, wenn der Booster ein wenig weggeschoben wird (wie beim CENTURI Passport-Staging). Übrigens, die Verwendung von mehr als drei Stufen ist unrentabel, denn jede zusätzliche Stufe verringert die Effektivität so, daß z.B. ein Modell mit 4 Stufen weniger Leistung hat wie ein Einstufiges bei gleichem Gesamtimpuls. Das Leitröhrchen sollte nur am Hauptmodell angebracht werden, dann kann das Modell nämlich auch einstufig geflogen werden. 

Beim Flug sollten die Flossen der einzelnen Stufen gegeneinander versetzt sein. Liegen sie aufeinander, reduziert der Sog die Flugleistung ganz erheblich. Eine stabile Bauausführung sollte vorhanden sein. denn die Modelle erreichen eine Maximalgeschwindigkeit, die oft der Hälfte der Schallgeschwindigkeit entspricht. Besonders bei Eigenkonstruktionen ist auf ein besonderes Phänomen aufzupassen: Die Zündung des zweiten Motors muß bei maximaler Geschwindigkeit erfolgen, nicht etwa bei maximaler Höhe. Die Boosterstufe wird also abgeworfen. wenn das Modell in voller Fahrt ist. Umgekehrt würde das Modell 50% seiner erreichbaren Gesamthöhe einbüßen. Bei einem A oder B-Motor erfolgt die Seperation daher in sehr geringer Höhe (und ist auch besser sichtbar). Vor jedem Flug sollte man sich vergewissern, daß man in den ersten Stufen auch wirklich einen Booster-Motor eingesetzt hat und das alle Motoren fest sitzen, denn ein Ausstoß des Motors ohne Abwurf des Boosterteils kann unangenehme Folgen haben (u.a. Zerstörung des Boosters und ruckartiger Abfall der Leistung, bekannt als "Krushnic-Effekt"). Für den obersten, also letzten Motor der Mehrstufen-Modellrakete, verwendet man den mit der in dieser Klasse längsten Verzögerungszeit. Bei den US-Motoren gibt es spezielle "Upper-Stage"-Motoren mit langer Verzögerungszeit (lila Label).

Wie sieht es in unseren Breiten konkret mit Modellbausätzen, Motoren und den gesetzlichen Bestimmungen aus? Die Firma ESE bietet diverse Mehrstufen-Modellbausätze (2 und 3stufige Modelle der Firmen ESTES und CENTURI) an, die für den Einstieg eine solide Grundlage bilden. Über ESE kann man ebenfalls Motoren für Mehrstufen-Modellraketen beziehen, es sind dies die Estes- Boostermotoren B6-0 und C6-0 (der A8-0 wird leider nicht mehr hergestellt, der D12-0 ist für die BRD nicht zugelassen) und die Upper-Stage-Motoren B4-6, B6-6 und C6-7 (A8-5 und D12-7 leider nicht zugelassen in der BRD). Da sie weder eine Ausstoß- noch eine Verzögerungsladung besitzen, sind auch der Held-1000 und der Held-5000 (erhältlich über PSN; letzterer in der BRD nur auf T2-Schein) bedingt geeignet. Bedingt, weil etwa der Held-1000 viel zu lange brennt und dafür zuwenig Anfangsschub hat.

Während es in der Schweiz keine besonderen Einschränkungen zu geben scheint, galt in der BRD bislang die Formel, daß Modellraketen nur einstufig geflogen werden dürfen; mehrstufige Modelle nur mit T2- Schein. Das ist falsch und richtig. Es gibt kein Gesetz, das Mehrstufenmodelle direkt untersagt. Allerdings gilt auch für Mehrstufenmodelle die Klausel, daß nur bis 20g Treibmittel erlaubnisfrei (d.h. T1) geflogen werden darf. Mit den hier zugelassenen Motoren ist ohne Erlaubnis praktisch eine zweistufige Kombination von B6-0 (Treibmittelgewicht 6,24 g) mit einem A8-3 (Treibmittel 3,12 g) oder B4-6 (8.33 g) bzw. B6-6 (6.24 g) bzw. C6-0 (12.48 g) mit B6-6 möglich. Was darüber hinausgeht, ist allerdings nur mit einer T2-Genehmigung erlaubt.

Dieser Artikel ist als Gedankenanregung zur Beschäftigung mit Mehrstufenmodellen gedacht. Wer sich mit der Thematik länger befasst, wird vielleicht eine Reihe von Neuentdeckungen machen; es wäre dann schön, ein bischen von diesen Experimenten (etwa in Form eines Artikels) zu erfahren. Ich wünsche frohes Schaffen!

(aus COUNTDOWN 1/88 - Nachdruck ohne Genehmigung verboten!)

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